Mit Mühe erkämpft sie sich aus ihrem hölzernen Gefängnis, streckt vorsichtig ihren Kopf aus dem Erdreich hervor. Das Sonnenlicht strahlt auf ihre jungen Keimblätter. Ihre Wurzeln breiten sich wie lange dünne Arme aus, greifen nach Nährstoffen und bieten ihr einen festen Stand. Die zarte Eiche trotz dem strömenden Regen, der wie Steine auf sie einschlägt. Sie streckt sich und ihre prächtige Krone leuchtet in saftigen Grüntönen. Die Wolken streichen liebevoll über ihr seidiges Haar und der Wind kühlt ihre feinadrige Haut. Ein Pärchen steht unter ihren Ästen. Der Regen prasselt auf sie herab und das Pärchen sucht unter ihren gewaltigen Armen Schutz. Die beiden streiten und trotz des dichten Blätterdaches ergießen sich Wasserfälle auf die im Moos verwachsenen Wurzeln. Schweigsame Seen bilden sich und treiben ihre beiden so unterschiedlichen Ufer noch weiter auseinander. Das gehässige Lachen des Regens übertönt den Streit, so als würde er gar nicht wollen, dass andere die Streitigkeiten hören. Die Eiche steht da unbewegt. Sie schaut nur zu. An anderen Tagen bewundern leuchtende Kinderaugen ihre kunstvoll besprenkelten Gemälde, sammeln die kleinen hölzernen Früchte oder versuchen ihren Stamm zu erklimmen. Die Eiche ist stolze Zeugin erster Küsse und emotionaler Liebesgeständnisse. Begleitet Schicksale und lauscht dem Schluchzen Verletzter und allein gelassener. Im Laufe der Jahre entsteht ein kleiner Park um die Eiche herum, goldverzierte Bänke werden aufgestellt, ein See angelegt und weitere Bäume gepflanzt.

Ganz allein sitzt die junge Frau unter der Eiche. Die goldene Bank ist ihr kleiner persönlicher Rückzugsort geworden. Von der Bank aus hat sie den perfekten Ausblick auf die in Gold gehüllte Parklandschaft. Die Sonnenstrahlen umhüllen die Bäume und bringen ihr Blättergewand zum Leuchten. Ein Lächeln schweift über ihre roten Lippen. Ihre schwarzen Lederschuhe sind vollständig von den orangen Blättern bedeckt. Mit ihren Schuhen wirbelt sie etwas Laub auf. Nicht weil es nötig wäre, ihr gefällt einfach nur das Geräusch. Eine Eichel fällt in ihren Schoß. Wie ein kleiner Wichtel mit Mütze, denkt sie, und fährt mit ihren Fingern die feinen Linien entlang. Plumps. Eine weitere Eichel fällt in ihren Schoß. Sie runzelt ihre Augenbrauen und schaut in das über sicher erhebenden Geäste. Da sitzt er. Sein Lächeln strahlt ihr entgegen und in seinen Händen hält er weitere der kleinen hölzernen Geschosse. Entschlossen erhebt sie sich und schwingt sich auf einen der knorrigen Äste.

Ein Ehepaar lässt sich auf die Bank unter der Eiche nieder. Die goldene Verkleidung ist bereits aufgeplatzt und enthüllt ihr metallisches Innere. Die beiden schweigen. Kein hasserfülltes Schweigen, sondern tiefverbundenes Schweigen. Die beiden sitzen eng aneinander und ihre Blicke schweifen über die Landschaft. Die Schneeflocken bringen das ergraute Haar der Dame zum glitzern. Die Straßenlaternen gehen an und beleuchten den zugeschneiten weg. Es ist so leise, dass sie das Klicken der Glühbirnen hören, sobald diese anspringen. Es gibt nichts ,worüber sie sich unterhalten müssten. Die Zeit drängt nicht. Alles ist gesagt. Die kleine verschnörkelte Bank unter der Eiche scheint der Mittelpunkt der Welt zu sein. Die beiden rutschen noch etwas näher und trotz des Schnees ist ihnen nicht kalt. Der See ist zugefroren und der gesamte Park in die wundersame Stille des Schneegestöbers gehüllt. Sie sind ganz allein. Er zieht eine Eichel aus seiner Hosentasche und legt sie in ihren Schoß. Schmetterlinge im Winter.

Ein Mädchen steht unter dem mittlerweile grünleuchtenden Blätterdach. Um sie herum surren aufdringliche Insekten, singen sich Vögel die Seele aus dem Leib und versuchen Pollen auch den letzten Millimeter der Rasenfläche zu streifen. Das Mädchen sieht all das nicht. Ihr Gesicht wird von ihren zitternden Händen bedeckt. Vor ihr erheben sich zwei große graue Steine. Ganz eng beieinander. So eng, dass sie sich ein Beet teilen. Weiße Gänseblümchen bedecken die Erde und erinnern an eine Schneelandschaft. Eine Schneelandschaft im Sommer.

Von Henriette

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