Soziale Fesseln

Soziale Fesseln

Ayasha schloss leise die Wohnungstür hinter sich. Es ist 6:30 Uhr an einem Dienstagmorgen.
„Du“, eine kleine Hand zupft an ihrer Jacke und sie blickt runter in die großen braunen Augen
ihres jüngeren Bruders Ali. Seine Augen glänzen leicht. „Wann gehen wir nach Hause?“ Ayashas
Magen zieht sich zusammen: „Aber wir sind doch gerade erst rausgegangen.“ Große Tränen rollen die Wangen ihres Bruders herunter und sie meint, ihr Aufprallen auf dem kühlen Steinboden im Treppenhaus widerhallen zu hören. „Ich meine richtig zu Hause“, ergänzt er. Ayasha war bewusst, dass ihr Bruder mit „zu Hause“ nicht die 50 Quadratmeter Wohnung im 14. Stock des Neubaublocks meinte. Sie nahm seine Hand und schwieg. Mehrmals im Monat stellte er ihr diese Frage, völlig unvorhersehbar und jedes Mal überrollte sie die Frage mit solch einer Wucht, dass sie ein wenig Zeit brauchte, um sich zu sammeln.

Sie sind bereits ein Jahr in Deutschland. Ein Jahr sind sie schon weg. Sie hatte es ihrem Bruder bereits mehrmals versucht zu erklären: In Syrien gab es für sie keine Zukunft mehr. Der Bürgerkrieg machte das alltägliche Leben zur Hölle und als 2018 ihr Zeltlager im Nordwesten Syriens von den Fluten zerstört wurde, flohen sie nach Deutschland. Für Ayasha war es schon schwer, das Geschehene zu begreifen, sie konnte sich gar nicht erst vorstellen, was in dem Kopf ihres 6-jährigen Bruders vergehen musste. „Ayasha, Ali?“, die panische Stimme ihrer Mutter hallt durch das Treppenhaus. Als Ayasha hochschaut, taucht der Kopf ihrer Mutter 13 Etagen über ihnen auf. Das Geländer dreht sich schneckenhausähnlich bis ins Unendliche hinter dem Kopf ihrer Mutter weiter in die Höhe. „Entschuldige, wir wollten dich nicht wecken, Mama ich…“ – „Habt ihr gefrühstückt?“ Die Stimme ihrer Mutter hatte seit einem Jahr einen anderen Klang. Trauer und Schuldgefühl mischten sich in die vorher fröhliche Stimmfarbe. Auch wenn sie es nie zugeben würde, wusste Ayasha, dass ihre Mutter sich eine Teilschuld an ihrer heutigen Situation gab. „Ich schon, aber-„, quakte ihr Bruder los. „Ja, haben wir“, würgte Ayasha ihn ab und schob ihn zur Tür raus. Sie musste heute dringend neues Brot kaufen…

Draußen war es noch dunkel. Die kantigen Umrisse von unzähligen Häuserblöcken zeichneten sich vom fast schwarzen Nachthimmel ab. Grau und groß – die Häuserblöcke umschlossen eine kleine grüne Fläche im Zentrum des Viertels. Ein paar Bäume und eine einzelne Bank wurden von dem Betonrahmen der Häuser umschlossen. Wie ein ästhetisches Gemälde in einem hässlichen Bilderrahmen. Kalte Regentropfen fraßen sich durch Ayashas Jacke. Während die beiden die Straße entlang zu dem Grundschulgebäude ihres Bruders eilten, flogen Ayasha bereits Entschuldigungen und Erklärungen für die nun welligen Seiten ihrer Schulbücher durch den Kopf. Die Bücher wurden von der Schule nur ausgeliehen und müssten bei Beschädigungen neu gekauft werden. Ihre Jacke und ihr Rucksack waren vollgesaugt mit Wasser und ein enormes Gewicht zog Ayasha gen Erdboden.
Sie riss die Klassenzimmertür auf. Mathe. Jetzt erst fiel ihr die Hausaufgabe ein. Sie hatte sie eigentlich gestern machen wollen, als Ali zu ihr kam. Er klagte über Bauchschmerzen und da ihre Mutter von 15 bis 22 Uhr Schicht hatte, war sie für seine Versorgung zuständig. Zeit für Mathe hatte sie nicht mehr. 16 Uhr. Ayasha saß auf der Bank inmitten des Neubaublock-Viertels. Sie beobachtete ihren Bruder, der mit ein paar Jungen in der Nähe Fußballkarten tauschte. Die Bank war unangenehm kalt. Dort wo die Bank nicht vollgekritzelt war, blätterte die blaue Farbe bereits vom Beton ab. Der Mülleimer neben der Bank quoll schon über und sein Inhalt überschwemmte den Boden mit Verpackungen, Zigarettenstummel und Plastikflaschen. Zumindest die Plastikflaschen würden nicht lange liegen bleiben.

Ayasha fühlte sich betäubt. Eigentlich ist sie in Deutschland sicher, es bietet ihr Schutz. Aber warum fühlt sie sich dann so gefangen? Weil auch ein Käfig seine Gefangenen schützt. Ayasha sitz da, umgeben von einem Meer aus Müll. Sie denkt an die letzte Unterrichtsstunde. In einer Dokumentation erklärte ein Politiker mit zurückgegelten blonden Haaren einer Reporterin: „In Deutschland haben wir eine Chancengleichheit. Jeder kann sich hocharbeiten. Keiner muss in Armut leben. Das macht Deutschland aus.“ Als Ayasha sich in der Klasse umgeschaut hatte, wusste sie ganz genau, dass sie nicht die gleiche Zukunft, wie ihre Klassenkameradinnen erwarten wird. Chancengleichheit…Sie würde ihr Leben lang hier sitzen. Umgeben von Neubaublöcken, in einem Meer aus Müll. Manchmal fragte sie sich, warum sie das alles verdient hatte. Weder sie noch ihre Familie hatten irgendetwas getan. Womit hatten sie diese Strafe verdient?

Ein Martinshorn heulte in der Nähe auf. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Situation erneut eskalieren würde. Und sie saß mittendrin, wartend. Wartend auf die Eskalation. Ohnmächtig und ohne Zukunft. Kein Ritter mit Schwert war in der Lage sie von den Ketten der kleinen Betonbank zu befreien, sie vor dieser Ungerechtigkeit zu retten. Eine ältere Frau bückte sich und begann die Pfandflaschen aus dem Müllhaufen zu sammeln und in eine Plastiktüte zu stopfen.

Nein. Ayasha richtet sich auf. Das würde sie nicht zulassen. Sie griff nach ihrer Schultasche. Sie würde der Ritter sein, der sich selbst rettet.

Dieser Text ist eine Modernisierung des antiken Mythos „Perseus und Andromeda“. Eine Videozusammenfassung des Mythos findet ihr hier: https://www.youtube.com/watch?v=6YmgOao1Rqo

Bildquelle: canva, KI-generiert

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